Guten Abend allerseits!

2018 06 08 Abiball 024Diese Begrüßungsformel schien mir angebracht, alle Gäste wurden ja schon mehrmals im Einzelnen und im Speziellen begrüßt, deshalb habe ich mich mit dieser Art besonders an die zahlenmäßig größte Gruppe im Saal gewandt, die mit dem Namen Heribert Fassbender noch etwas anfangen kann. Vielleicht hat der oder die eine oder andere dabei auch leicht geschmunzelt – was der Stimmung im Saal ja nicht abträglich ist - das ist für einen Redner mit einer ziemlichen Anfangsnervosität ja nicht unwichtig!

Vorbemerkung 1

Machen Sie sich bitte auf zwei Blöcke gefasst, der Übergang vom einen zum anderen ist zu erkennen, er ist auch sprachlich markiert. Im ersten widme ich mich dem ganzen Publikum, versuche allen hier Anwesenden etwas zu bieten, indem ich mich auf den Mikrokosmos Schule mit all ihren Beteiligten beziehe, während ich mich im zweiten eher an die Hauptpersonen wende, derentwegen wir ja hier sind - nämlich der großen Gruppe der Ausschulungsschüler, die da unten vor mir sitzen.

Vorbemerkung 2

Ich halte diese Rede auch im Namen meiner TutorInnenKollegInnen Mayer, Hullen-Missalek und Jonischkeit – obwohl sie keine Ahnung davon haben, was ich sagen, hier anstellen werde. Wir haben uns nicht abgestimmt, da war keine Zeit, wann hätte ich das machen sollen in der Hektik der letzten Wochen, mein PC war kaputt     - und was es sonst alles noch an Ausreden gäbe - Aber   - wenn sie nach der Rede Unmutsäußerungen von sich geben wollen, ich habe 3 weitere Adressaten benannt, an die sie sich wenden können   -     Nun gut !!

Ich habe mir also vor einiger Zeit das Recht/die Pflicht, diese Rede zu halten, unter demokratietheoretisch durchaus zweifelhaften Aspekten einfach genommen - und bin gleich anschließend heftig ins Grübeln gekommen - ein innerer Konflikt, was hatte ich mir da aufgeladen .  Dieses Grübeln führte zunächst zu einer auch durchaus schüleradäquaten Reaktion, nämlich zu konzentriertem Nichtstun - auch in der Hoffnung auf den einen Einfall, den Geistesblitz     -     der aber lange nicht kam. Auch hier wieder: ein aus Klausuren bekanntes Verhalten

In meiner Verzweiflung habe ich mich dann auf das besonnen, was wir euch beizubringen versuchen, bspw. in PoWi, Ek, Geschi usw.: Situations- und Konfliktanalyse. Wer also ist beteiligt, was wird von wem erwartet, welche Ziele haben die Beteiligten, wie sehen die verschiedenen Lösungswege aus, gibt es Alternativen?

Habe dann eine durchaus repräsentative Umfrage gestartet, um herauszufinden, was denn dieses absolut heterogene Publikum wohl erwarten könnte - das geht ja vom Hausmeister über ab und zu gelangweilt herumstehende Oberstufenschüler, eingeladene und tatsächlich auch gekommene Repräsentanten des öffentlichen Lebens sowie der Finanzwirtschaft, Eltern, Kollegen, Menschen, die für das leibliche und akustische Wohlergehen sorgen - bis hin zu Euch - liebe Ausschulungsschüler.

Was also erwartet ihr?   Eine kurze Rede, mit Witzen, die man versteht (also keine Lehrerwitze), keine Beschimpfungen wie bspw. die, dass ihr vor lauter an Suchtverhalten erinnerndes Handygedaddel die wahren und wichtigen Dinge des Lebens nicht mitbekommt   - bspw. dass der HSV endlich abgestiegen ist.

Ganz anders hingegen sind die Erwartungen der Eltern, Die erwarten 5 Dinge:

  1. Hinweis auf Einschulung (was waren das doch für süße Dinger)
  2. Hinweis auf Pubertät (was waren das doch für unausstehliche Quälgeister)
  3. Hinweis auf eine goldene Zukunft (ziehst du eigentlich auch mal in ein eigenes Zimmer? Kind, um Himmels willen – Großstadt! Hier hast du doch alles!)
  4. Hinweis auf wissenschaftliche Aspekte, Theorien, Abschluss + Zukunft (was haben wir für einen kluges Kind)

Und 5.: Ein, wenigstens 1 Goethe-Zitat

Die Einteilung des klassischen Dramas mit seinem fünfschrittigen, pyramidalen Aufbau werden Sie sicher erkannt haben:

- die Exposition, in der die Helden vorgestellt werden, entspricht der Einschulung.

- nach einer mehr oder weniger lang wahrgenommenen Steigerung nähern sich die Helden in der Pubertät dem Klimax mit vielen (!!), vielen retardierenden (!!)

Momenten, (darauf komme ich später noch zurück)

- letztlich durchleben sie in der absteigenden Handlung in allerlei dramatischen Verwicklungen die Katastrophe und sitzen, gereinigt durch die Katharsis ,also das Abitur, heute hier vor mir und harren ihrer goldenen Zukunft.  

Puuh, Erster wissenschaftlicher Aspekt (Dramentheorie!!) abgehandelt   - Goethe fehlt noch.

Etwas differenzierter sieht der Erwartungshorizont der verehrten Kollegenschaft aus – der spielt aber keine Rolle, denn wie Sie ja sehen, ist das eine relativ kleine, statistisch nicht mehr relevante Gruppe, die ich aus Gründen der wissenschaftlichen Genauigkeit außer Acht lassen muss. Goethe fehlt übrigens noch immer!

Nachdem nun die Erwartungen an diese Rede geklärt wären, möchte ich uns allen noch einmal in den Schulalltag zurückwerfen und kurz den Verlauf einer typischen GAZ-Schüler-Biographie an den Parametern „Ankunftszeit und Grußverhalten“ aufzeigen :     Zweiter wissenschaftlicher Aspekt, liebe Eltern!

Nach der Einschulung ist noch ein großer Enthusiasmus zu erkennen. Dieser spiegelt sich in einer sogenannten „überzeitigen Ankunft“ in der Schule ebenso wieder wie im Grußverhalten. Da werden noch die Fenster aufgerissen, um in glockenklaren Stimmen über den gesamten Schulhof zu brüllen: „Hallo, Herr Volz, wir sind hier. Wir haben sie gleich in Deutsch, wir haben aber Raumvertretung.“ Ich nehme Letzteres dankbar zur Kenntnis, weil ich ausnahmsweise ziemlich kurz auf knapp zur Schule kam, dreimal um den Parkplatz kreisen musste, weil die blöden Mopeds, aufgemotzten Mofas, kraftmeierischen und luftverpestenden Zweiräder der gefühlt kompletten damit an den Bildungsplatz reisenden Schülerschaft der Klassen 9-12 mal wieder kreuz und quer auf dem Parkplatz standen und mindestens das Dreifache der eigentlich zur Verfügung stehenden Plätze in Beschlag nahmen und die darauf eintreffenden Fahrer und Fahrerinnen auch nicht im Traum daran dachten, Platz zu machen für schwer bepackte LehrerInnen und ich deshalb nicht mehr auf den Vertretungsplan schauen konnte…. Aber das nur nebenbei  Puh, was ein Satz. Zurück zum Thema!!

Zu Beginn der Pubertät - man kommt jetzt zwar auch bisweilen noch „überzeitig“ , aber nur deswegen , um die Hausaufgaben abzuschreiben - wird in der Schule keine Grußformel mehr geschrien, jedoch freundlich gelächelt und still gegrüßt. Dies ändert sich im Verlauf der Pubertät jedoch grundlegend. Jetzt wird bei einer Begegnung eher betreten weggeschaut, auf ein kräftig-trotziges ‚Guten Morgen‘ der Lehrkraft wird allenfalls weit außerhalb der Hörweite und 10 Treppenstufen höher und auch nur auf einen deutlichen Puff der neu eroberten Freundin/des neu eroberten Freundes ein verschämtes ‚Moje‘ nachgereicht - außerhalb der Schule auch schon mal vorsichtshalber die Straßenseite gewechselt. Die Ankunftszeit an der Schule oszilliert in dieser Phase der Pubertät um den Richtwert 8:00 Uhr. Der Kampf gegen das System hat begonnen...

In der Oberstufe korreliert die Verspätung sehr stark mit der Volljährigkeit, die Begrüßungsformel pendelt sich auf ein einziges Wort ein, auf das mehr oder minder freudig vorgetragene, in seiner Unverbindlichkeit nicht zu übertreffende ‚Hallo‘. Die Ankunftszeit 9:00 Uhr ct ist übrigens eine gute Vorbereitung auf zukünftige Univorlesungen... Während der mündlichen Abiturprüfungen wiederum lässt sich eine gewisse Rückkehr zur Pünktlichkeit ebenso feststellen wie ein überdurchschnittlich gehäuftes Grußverhalten, zumindest am Anfang der Prüfung. Immer noch kein Goethe !!

Ich wechsle die Tonlage, enge den Adressatenkreis ein, jetzt kommen sie, die Zitate, auch Goethe – aber keine Angst, keine Moralpredigt   - Wünsche. (Hier: Hinweis auf Quellen  + David Forster Wallace !!)

Euer Abschluss heißt ‚Allgemeine Hochschulreife - nicht spezielle!!! Ihr habt nicht Jahre hier verbracht, um einen Fanclub für Stochastik zu bilden oder einen Freundeskreis der Evolutionstheorien, geschweige denn einen Ak zur Weiterentwicklung des Say’schen Theorems. Nein, es ging und geht um Allgemeinbildung, die auch versehen sein soll mit einem Kompass für die guten und richtigen Entscheidungen. Im Vollsinn des Wortes wahr ist nur, dass es eure Entscheidung ist, ganz allein eure Entscheidung, wie ihr die Dinge sehen wollt   -   dabei gibt es aber immer mindestens ein „einerseits – andererseits“, meistens aber mehrere Perspektiven und Sichtweisen. Ihr selbst tragt diese Zwei- bis Mehrdeutigkeit permanent in euch (2 Seelen wohnen ach in meiner Brust; Goethe, Faust 1, da isser). Ihr müsst Entscheidungen treffen und die Konsequenzen tragen und dabei bedenken: Es irrt der Mensch, solange er strebt (schon wieder Faust!), ihr werdet Fehler machen, auf die Nase fallen - entscheidend wird dann sein, die richtigen Schlüsse zu ziehen, das ist die Freiheit wahrer Bildung.

„Sir, geben Sie Gedankenfreiheit“,   das fordert Marquis Posa in Schillers ‚Don Carlos‘ vom spanischen König – Gedankenfreiheit gab und gibt es, was da gefordert wird, ist der zentrale Aspekt freier Gesellschaften: Gedanken frei äußern zu können und zu dürfen   -   das können Hunderte von Millionen Menschen nicht, die riskieren dafür Leib und Leben; ihr könnt es völlig gefahrlos – ich wünsche mir, dass ihr es auch tut, dafür einsteht, dass es so bleibt, keine Angst auch vor unbequemen Aussagen habt und anderen auch mal auf die Nerven geht – einige von euch haben das an der GAZ ja schon ansatzweise getan. Und ich wünsche mir, dass ihr in der Lage seid zu unterscheiden, was wahr ist, was falsch und zu erkennen, wo ihr an der Nase herumgeführt werdet. Und es gibt in dieser heutigen Zeit leider eine Entwicklung zu Scharlatanerie und Hochstapelei in vielen Bereichen, leider auch in eminent wichtigen, die das Gefahrenpotential für euch deutlich erhöhen. Viele Entwicklungen in unserer Gesellschaft machen mir Angst und bereiten mir Sorge. Wir hatten in unserer Jugend eine klar definierte Gefahr: Der Ost/West-Konflikt, die Situation war überschaubar. Heute gibt es eine Vielzahl von Brandherden, dass man nicht weiß, wo anfangen. Und dazu kommt noch, dass diejenigen, die sich als Feuerwehrmänner gerieren, die eigentlichen Brandstifter sind, die - ja, ich sage es so deutlich - die Axt an den Zusammenhalt unserer Gesellschaft legen: Polarisierer, die Kompromissfähigkeit und den bisweilen mühsamen Diskurs um die richtigen Wege in einer demokratisch verfassten Gesellschaft für Schwäche halten; und die mit Ausgrenzungspolitik - gegen andere Meinungen, gegen andere Menschen, gegen andere Kulturen, vielfach schlicht nur gegen das, was irgendwie anders ist- Erfolg haben. Friedliches Zusammenleben wird dadurch enorm erschwert. Ich wünsche mir, dass wir euch so viel an Wertmaßstäben mitgeben konnten, dass ihr hier die richtigen Entscheidungen treffen könnt, wahrhaftig von falsch unterscheiden könnt.

Und ich wünsche mir, dass ihr bei all dem auch den Lenz aus Büchners gleichnamiger Novelle im Auge behaltet, der sich wunderte, dass er „nicht auf dem Kopf gehen konnte:“ Macht das, geht auf dem Kopf, wechselt die Perspektive, ich wünsche euch den Mut dazu und hoffe, dass ihr es wagt:  Dinge auch auf den Kopf zu stellen…

Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit, sie erfordert Disziplin und Mühe, kann verdammt anstrengend sein; sie erfordert vor allem auch die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen, womöglich Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen   --- und   sie zu respektieren, Tag für Tag , so, wie sie nun mal sind.

Das ist völlig unsexy, das nenne ich wahre Freiheit, das heißt Denken – denn die Alternative ist die Gedankenlosigkeit.

Ich weiß, dass das alles womöglich nicht mehr so witzig, flott und inspirierend klingt, wie zentrale Thesen von Abschlussreden klingen sollten. Soweit ich sehe, ist es aber die Wahrheit, ihr könnt trotzdem davon halten, was ihr wollt   - es ist ja eure Entscheidung. Eure Freiheit !!

Ich wünsche mir, dass ihr sie auch nutzt!!

Und ich wünsche euch dazu noch viel mehr als nur Glück, danke, dass ihr mir so lange zugehört habt.

lehrer hessen 0222

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